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100 Jahre Seebrückenunglück in Binz
Dreieinhalb Monate nach der großen Schiffskatastrophe, dem Untergang des Luxusliners Titanic im Nordatlantik, ereignete sich am 28. Juli 1912 in Binz auf Rügen ein Unglück, bei dem 16 Menschen, darunter zwei Kinder, in der Ostsee ertranken. Diese lokale Tragödie sollte weitreichenden Folgen für die gesamte damalige Gesellschaft haben, in der das Schwimmen und das Rettenkönnen nicht Mode waren. Durch die ganze geschriebene DLRG-Geschichte zieht sich die Überschrift wie ein roter Faden: Das Seebrückenunglück in Binz auf Rügen war der äußere Anlass zur Gründung der DLRG. 2012 jährte es sich zum 100. Mal.
Am Montag, dem 29. Juli 1912, berichtete das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt unter der Überschrift „Ein schreckliches Brückenunglück in Binz“ über das Geschehen am vorherigen Tag: „Der gestrige Sonntag, der für Binz infolge des Rennfestes und der Anwesenheit der kaiserlichen Marine den verkehrsreichsten Tag bildete, wurde ein Unglückstag, wie er hier noch nicht erlebt wurde.
Auf der großen Landungsbrücke wandelten Tausende von Menschen, die Teils zur Besichtigung der Schiffe auf die Ankunft der Boote und Barkassen warten oder von denselben zurückkehrten, oder die mit den Schiffen weiterfahren oder die dem regen Leben und Treiben zuschauen wollten. Da, etwa 6 ½ Uhr (am Sonntagabend, Anm. der Redaktion), als der Dampfer "Kronprinz Wilhelm" an der Brücke anlegte, um Fährgäste zu landen und aufzunehmen und die Landung der Passagiere und des Gepäcks bereits erfolgt war, verschwand plötzlich die untere Brücke am Brückenkopf, auf welcher die einsteigenden Personen standen, in der Tiefe des Meeres und mit ihr etwa 70-80 Personen.
Ein ängstliches Hilfegeschrei der Versinkenden ertönte zu den ahnungslosen Menschen, die oben wandelten, und eine ängstliche Bestürzung bemächtigte sich der unten stehende Personen, die nun mit Leitern und Stangen zu retten suchten, was nur zu retten war. Vom Dampfer "Kronprinz Wilhelm" wurden schnell alle Rettungsgürtel und Taue ins Wasser geworfen und aufsteigende Raketensignale verlangten Hilfe von den nahen Kriegsschiffen. Offiziere und Matrosen beteiligten sich schnell am Rettungswerk und herbeieilende Marine- und Zivilärzte bemühten sich um das Leben der bewusstlos auf der oberen Brücke niedergelegten Geretteten.
Eine ältere Dame, die fortwährend nach ihrem einzigen 16-jährigen Sohne rief, der mit ihr ins Wasser gestürzt war und den sie nach ihrer Rettung nicht mehr sah, wurde vor Schmerz fast wahnsinnig. Der Polizeisergeant Päper von Binz (gemeint ist der Gemeindediener der Theodor Päper, Anm. der Redaktion), der auf der Brücke den Überwachungsdienst versah und mit ins Wasser gestürzt war, vermochte sich an einem Tau in die Höhe zu ziehen, wurde jedoch wieder ins Wasser hinabgezogen und musste ertrinken. Er hinterlässt außer seiner Ehefrau 6 noch unversorgte Kinder. Der königl. Bahnmeister Thege, der die Strecke Bergen - Lauterbach zu überwachen hatte, wurde mit einer Verletzung am Kopfe gerettet, während dessen Mutter ertrank. Die meisten Ertrunkenen waren allem Anscheine nach Badegäste, da viele Gepäckstücke mit zur Beförderung kamen, aber auch Ausflügler aus Greifswald, die der Dampfer heimbringen wollte.
Das bedauerliche Unglück ereignete sich dadurch, dass ein etwa 7-8 Meter langer dicker Querbalken, auf dem der Belag der unteren Landungsbrücke auflag, jedenfalls infolge zu großer Belastung in der Mitte entzwei brach und die Bohlen mit den Menschen in die Tiefe stürzten. Nach dem Unglück wurde die Brücke sofort gesperrt und der Dampfer „Freya“, der seine Binzer Fahrgäste auf der Brücke absetzen wollte, durfte nicht mehr anlegen“
Opfer und Lebensretter
14 Menschen bezahlten das Unglück an der Landungsbrücke der 560m langen Seebrücke direkt mit ihrem Leben, darunter acht Frauen, vier Männer und zwei Kinder. Wenige Tage später sterben zwei weitere Frauen an den Spätfolgen, sodass sich die Zahl der Opfer auf 16 erhöhte.
Es wären wohl noch mehr Menschen ertrunken, hätten nicht Offiziere und Mannschaften der Hochseeflotte der kaiserlichen Marine, die vor Binz ankerte, den Ertrinkenden schnelle Hilfe geleistet und sie aus ihrer verzweifelten Situation befreit. Für ihre heldenhafte Hilfe sind die Retter von Wilhelm II., Kaiser von Deutschland und König von Preußen, ausgezeichnet worden.
Den Königlichen Kronenorden vierter Klasse erhielten u.a. Leutnant zur See von Koppelow (S.M. Linienschiff Pommern)und Marineassistenzarzt Dr. Christel (S.M. Linienschiff Hessen), die Rettungsmedaille am Bande wurde verliehen an Oberleutnant zur See Martin Braune und Leutnant zur See Gibsone (S.M. Linienschiff Hessen), an den Obermatrosen Adolf Margott sowie die Matrosen Gustav Boska (S.M. Linienschiff Preußen) und Wilhelm Marquardt (Pommern). Darüber hinaus wurden 16 „allerhöchste Belobigungen“ erteilt.
Richard Römers schwarzer Urlaub
Er taucht in keiner Gästeliste der Binzer Hotels auf, aber er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: Christian Wilhelm Richard Römer, geboren in Hohenlimburg, damals 24 Jahre alt und Sergeant der Garde-Maschinengewehr-Abteilung Nr.2, hatte an diesem Wochenende dienstfrei. Er hatte aber keinen Urlaubsschein beantragt und hielt sich demzufolge „schwarz“ in Binz auf. Es sollte in seiner Einheit niemand erfahren.
Werner Herzbruch, 1962 Vorsitzender der DLRG-Ortgruppe Hohenlimburg, telefonierte in jenem Jahr mehrfach mit Römers Ehefrau Clementine. Von ihr erfuhr er, was ihr Mann ihr über das Unglück geschildert hatte und schrieb es nieder:
„An diesem Sonntag machte sich Römer dann in Ausgehuniform bei herrlichem Sommerwetter auf den Weg zum Anlegesteg. Auf der Seebrücke waren hunderte Menschen, Reisende und Neugierige. Die Seebrücke endete mit einer Anlegeplattform in der Ostsee, die dort 15 bis 18m tief war. Kurz vor der Plattform plazierte er sich und beobachtete die über 100 Menschen auf der Plattform und Seebrücke, als der Bäderdampfer “Kronprinz Wilhelm“ an der Plattform anlegte. Hierbei brach gegen 19 Uhr mit lauten Getöse die hölzerne Plattform zusammen und laut schreiend stürzten die Menschen in die Ostsee.
Er sah das Unglück aus nächster Nähe. Hilflos sahen die Menschen auf der Landungsbrücke zu, wie die Menschen im Wasser schrien und ertranken. Römer entledigte sich seiner Mütze, zog seine Uniformjacke (damals Bratenrock genannt) aus, an der sein Schwert (Säbel) befestigt war, und sprang in die Ostsee. Er hatte in der Lenne zwar schwimmen gelernt, aber retten im Wasser konnte damals niemand. Er ist zu den jeweiligen Personen geschwommen und, um nicht von diesem festgeklammert zu werden, tauchte er meistens unter ihnen durch und döppte (drückte sie unter Wasser) sie und schwamm dann zu den eingestürzten Balken des Steges, wo Nichtschwimmer halfen, die geretteten Menschen in Sicherheit zu bringen.
So machte er das mit 12 Menschen, die sonst ertrunken wären. Bei der 13. Person war er so entkräftet, dass er bei den Helfern an den Balken beinahe selbst ertrunken wäre, soeben konnte er sich über Wasser gehalten werde. In der Zwischenzeit waren die Schiffe des Manövers zur Hilfe gekommen und insbesondere Matrosen der MS Preußen retteten weitere 27 Menschen.
Im Frühjahr 1913 verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. die Rettungsmedaille am Bande. Richard Römer starb 1929 in Kork bei Kehl am Rhein. Er wurde 41 Jahre alt. Zu Ehren des Retters hat die Gemeinde Hohenlimburg 1998 eine Straße in einem Neubaugebiet nach ihm benannt. Die DLRG Kehl taufte ein Rettungsboot auf den Namen Richard Römer.
Von Binz zur Gründung der DLRG
Das tragische Seebrückenunglück fand seinen Nachhall in der Presse. Die Ostseezeitung und der Lübecker General-Anzeiger machten ihre Ausgaben mit dem Unglück auf und auch die zu Beginn des Jahres 1913 erfolgten Ehrungen wurden in den Zeitungen publiziert.
Georg Hax, Vorsitzender der DLRG, gab im Rahmen der Haupttagung in Dessau 1926 seinen Jahresbericht für 1925. Darin schreibt er: „Das große Unglück am Binzer Seesteg war der äußere Anlass zu der Gründung unserer Gesellschaft. Am 5. Juni 1913 erschien im Amtsblatt des Deutschen Schwimm-Verbandes der von dessen Führern unterzeichnete Aufruf zur Gründung der DLRG innerhalb des DSV.“
Georg Hax gehörte mit zu den Gründungsmitgliedern der DLRG und den führenden Persönlichkeiten im DSV, er findet sich aber nicht in der Liste der 13 Unterzeichner. Bei den Wahlen am 19. Oktober 1913 wurde er in den Ausschuss gewählt, der den Vorstand unterstützte und in der Folgezeit wichtige Entscheidungen für die Entwicklung der Gesellschaft vorbereitete.
Der Gründungausruf in „Der deutsche Schwimmer“ trägt die Überschrift: „5.000 Menschen ertrinken jährlich in Deutschland.“ Nach einem kurzen Einführungstext folgt dann der Aufruf: „Unsere Lebensrettungs-Gesellschaft soll eine lose Vereinigung werden, die jeden nur innerhalb des Deutschen Schwimm-Verbandes besteht…“ Und weiter: „Alle sollen mitarbeiten und helfen an diesem Werke, Vereine und Kameraden; an alle wenden wir uns mit der Bitte um Beitritt und Mithilfe.“ Es folgen die Namen der 13 Unterzeichner.
Aber schon in der Ausgabe 42 des offiziellen Verbandsorgans, erschienen wenige Tage vor der Gründungsversammlung, hat sich die Zielgruppe geändert. In § 4 heißt es nun: „Mitglieder des Vereins können alle unbeschränkt geschäftsfähigen natürlichen Personen beiderlei Geschlechts werden, ferner Behörden, Körperschaften, Vereine…“ Die ersten vier Paragraphen der Satzung, die den Namen und ihren Zweck festlegten, wurden bereits im Vorfeld der Gründungsversammlung im schriftlichen Verfahren abgestimmt und am 19. Oktober nicht mehr beraten.
Die Einladung zur Gründungsversammlung erfolgte durch ein Einladungsschreiben am 12. Oktober 1913 ausgestellt von Walther Bunner, Greifswald. Bereits zuvor wurden Mitgliedskarten ausgestellt, die ersten am 26. Juni 1913. Sie dienten zugleich auch als Eintrittskarte zur Gründungsversammlung. In dem Einladungsschreiben findet sich ein entsprechender Hinweis.
In der Lebensretter-Ausgabe Juli 1959 ist auf Seite 201 ein Aufsatz von Walther Mang, Heidelberg abgedruckt, in dem er auch auf das Seebrückenunglück und die Vorgeschichte zur Gründung der DLRG eingeht, er schreibt: „Bei der Erwähnung des Binzer Landungsbrückenunglücks blieb Bunners tatkräftiges retterisches Eingreifen unerwähnt, das ihm doch erst den starken Anstoß zur Verwirklichung seines Gründungsgedankens gab, den ich zuvor im DSV-Jahrbuch 1912 untergebracht hatte.“ Mit diesen Sätzen nennt Walter Mang einen Grund für die spätere Gründung der Gesellschaft.
Im Jahrbuch des Deutschen Schwimm-Verbandes von 1912 nimmt Walter Mang aus Sicht des Schwimm-Funktionärs Bezug auf das Ereignis in Binz: „…nur wenn Menschenopfer dabei buchstäblich dutzendweise fallen –es klingt hart- wie beim Binzer Brückeneinsturz, hallt wieder einmal lauter und länger der Ruf nach Abhilfe, sonst bleibt es meist bei der resignierenden, registrierenden Pressenotiz.“
Die Initiatoren der DLRG erkennen also die Bedeutung des Seebrückenunglücks und Mang ordnet seine öffentliche und mediale Bedeutung richtig ein.
Walter Bunner und Walter Mang spielten Hauptrollen in der Gründungsgeschichte der Gesellschaft, wie die frühen Mitglieder der neuen Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft den Verein abkürzten. Das Kürzel DLRG, mal mit, mal ohne Punkte zwischen den Buchstaben geschrieben, entstand erst später.
Weitere Hinweise auf den Lebensretter Walter Bunner, der zu jener Zeit im Greifswald bis 1914 studierte und im Physikalischen Institut wohnte, finden sich auch in der DLRG-Literatur nicht, die Nähe seines Wohnortes zum Unglücksort lässt aber seine Beteiligung am Rettungsgeschehen in Binz möglich erscheinen.
Martin Janssen
Erschienen in "Die Verbandszeitschrift der DLRG" Ausgabe 2/2012
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